Juli

Josa Wode

Erbarmungslos drückt die schwüle Sommerhitze auf mich herab. Ich liege im Gras, in meinem Blickfeld fette, schillernde Fliegen, die träge über der Pfütze meines Blutes umhersurren. Hier ist es so ruhig – der Ausdruck von Idylle –, dass mir dies wie das Dröhnen mächtiger Motoren erscheint. Vielleicht wird das durch die aus dem heftigen Schlag auf den Kopf rührenden Kopfschmerzen verstärkt, denke ich. Oder ist es anders herum? Mein ganzer Kopf dröhnt im Rhythmus der Fliegen mit.

Ich muss hier weg. Nur wie? Vielleicht wäre Aufstehen eine gute Idee. Doch selbst wenn, drückt es mich mit der ganzen Kraft der Erde nach unten. Schwerkraft. Wie soll ich da nur gegen ankommen? Die zwei Stunden Wanderung zurück zur nächsten Ortschaft sind ohnehin unvorstellbar. Von Vornherein war mir bewusst, dass es ein unwägbares Risiko bedeutete, allein auf die Suche zu gehen. Doch wollte ich mit niemandem teilen. Dazu reichte mein Vertrauen nicht.

Ich bin unendlich müde. Mit gewaltiger Anstrengung winde ich meinen schmerzenden linken Arm an mir herab, angle mein Telefon aus der Hosentasche und hole es in mein Sichtfeld: 15:37, kein Netz und der Akku wird von der ständigen Netzsuche geradezu gierig ausgesaugt. Überrascht bin ich nicht, die Enttäuschung spüre ich dennoch. Jetzt bloß nicht einschlafen. Nur kurz ausruhen…

Wie spät ist es? Die Sonne brennt noch immer – oder schon wieder? Nein, ich glaube nicht, dass ich lange gelegen habe. Doch länger liegen bleiben sollte ich nicht. Ich drehe mich vollends auf den Bauch und beginne, mich mit den Armen langsam nach hinten und in die Hocke zu drücken. Ich ruhe mich aus, muss husten und ein bisschen würgen. Dann arbeite ich mich langsam in einen wackeligen Stand. Ich fühle das Blut in meinem Nacken herablaufen. Hoffentlich nicht so viel.

Benommen lasse ich den Blick schweifen: Vor mir die rote Pfütze, aus der ich mich erhoben habe, ein Stück weiter der ebenfalls blutige Stein, mit dem man mich wohl niedergeschlagen hat. Die kleine Baumgruppe hinter mir muss die angreifende Person verborgen haben. Schatten spendete sie mir nicht. Feindseeliges Gestrüpp! Etwas weiter lädt ein kleiner Tümpel zum Verweilen ein – hah, sicher eine großartige Idee! Doch jetzt im Ernst: Zurück schaffe ich es nicht, da bin ich sicher, also kann ich genauso gut weitermachen. Ein Zittern und ein Gedanke durchfahren mich untrennbar voneinander: Ich werde sterben.

Jeglicher dürre Zweig Hoffnung, den ich mir herbeisinnen kann, zerbricht bereits bei vorsichtiger Betrachtung. Da könnte ich auch auf eine Rettung durch Außerirdische warten. Wenn ich mir sage, was soll's, dann glaube ich das nicht etwa, nur setzt das einen Automatismus in Gang, der mir Kraft gibt, wenigstens irgendetwas zu tun.

Monatelang habe ich nach Hinweisen gesucht und gerätselt, oft bis spät in die Nacht noch im Internet recherchiert und über Karten und Satellitenaufnahmen gebrütet, um am nächsten Tag auf der Arbeit einzunicken. Ich habe nicht nur die Rätsel gelöst und den Ort bestimmt, ich bin vorbereitet. Anhand der Zielkoordinaten habe ich versucht, Schlüsse über das Versteck zu ziehen, doch war das selbst mit Satellitenbildern nur eingeschränkt möglich. Ich habe Beschreibungen über das Gebiet gelesen, meine Ausrüstung an das Terrain angepasst, versucht irgendetwas über die Zielposition in Erfahrung zu bringen. Mehr als eine leise Ahnung, dass es sich um eine Höhle handeln könnte, habe ich dabei allerdings nicht gewonnen. Ich war noch nie hier, doch finde ich mich ganz sicher auch ohne GPS zurecht – verdammt, mein Telefon liegt noch in der Pfütze auf dem Boden, doch es ist mir zu anstrengend, mich danach zu bücken und der Akku dürfte ohnehin bald schlapp machen.

War es arrogant, zu glauben, dass ich bisher als Einzige die Lösung gefunden hätte? Ich war so sicher. Jetzt frage ich mich, ob wir überhaupt die Ersten waren und ich nicht vielleicht völlig umsonst angegriffen wurde. Na, das wäre mal ein wirklich nutzloser Tod. Um mich etwas aufzubauen: Ich würde auf der größten Schatzsuche unserer Zeit mein Leben lassen, kurz vor dem Ziel. Also voran. Einen Fuß vor den anderen. Mal sehen, wie nah ich an das Ziel herankomme. Mein Kopf dröhnt höllisch. Nur bis zum Waldrand und dann ist es nicht mehr weit. Schritt für Schritt.

Die feuchte Waldluft und der Schutz vor der Sonne geben mir neue Kraft, wenn auch nicht viel. Das Terrain wird steiniger. Ich weiß, dass hier vereinzelt Felsen aus dem Wald ragen. Mühsam kämpfe ich mich durch das Unterholz, erreiche den kleinen Felskamm, den ich erwartet habe. Ich folge ihm in östlicher Richtung, bis sich vor mir eine tiefe Felsspalte im Boden auftut. Verdammt, es ist tatsächlich eine Höhle! Ich muss da irgendwie runter kommen. Doch was ist das? Da war jemand so überaus freundlich, ein Seil hängen zu lassen – fest um einen vertrauenerweckenden Baumstamm geknotet. So kann ich es schaffen.

Ich lehne am unteren Ende des Abstiegs mit dem Rücken gegen die moosige Felswand der schmalen Spalte, die sich zur Linken fortsetzt. Die feuchte Kühle durchdringt mein T-Shirt. Ich schließe die Augen und atme tief. Es riecht modrig und nach altem Laub. Nun fällt mir ein, dass sich meine Taschenlampe ordentlich verstaut in meinem Wanderrucksack befinden dürfte und dieser vermutlich dort, wo ich von hinten überrascht wurde. Hoffentlich dringt das Zwielicht weit genug in die Spalte, dass ich ohne eigene Lichtquelle auskomme. Ich öffne die Augen und mobilisiere meine letzten Kräfte, da sehe ich einen hin und her tastenden Lichtstrahl aus der Tiefe der Spalte dringen. Eiskalt durchfährt es mich. Die andere Person ist noch hier. Wie konnte ich nur so dumm sein?! Mir wird übel. Wie gelähmt beobachte ich das Licht, wie es langsam über die Höhlenwand näher kriecht. Plötzlich beschleunigt es sich und ich vernehme laut raschelndes Laub, als der Schatten aus dem Inneren auf mich zu hastet. Dann rast die Taschenlampe auf meine Stirn nieder und ich gehe mit einem lauten Aufschrei erneut zu Boden.

Laute dringen an mein Ohr. Stimmen. Doch ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Ich spüre Berührung, werde in eine sitzende Position bewegt. Dabei wird mir kotzelend. Oder war das vorher schon? Das Wasser ins Gesicht kommt unerwartet. Aus verkrusteten Augen blicke ich in ein besorgtes Gesicht. Und ich dachte, ich wäre so schlau, so besonders, dass ich der Konkurrenz um Wochen voraus wäre. So drastisch die Folgen meines Irrtums im ersten, so dankbar sollte ich in diesem Fall wohl sein. Ich versuche mehr zu erkennen, doch meine Augen wollen nicht offen bleiben.

»Ganz langsam. Keine Sorge. Wir holen dich hier raus.«

Ich versuche zu antworten, bringe jedoch keinen Ton heraus. Zwei Stimmen reden beruhigend auf mich ein. Als mir eine Trinkflasche an die Lippen geführt wird, trinke ich gierig, huste, atme dann eine Weile schwer.

»Das kriegen wir schon hin. Rayko holt das Verbandszeug und wenn wir dich wieder zusammengeflickt haben, schaffen wir dich hier raus.«

Nun gelingt es mir doch, krächzend ein paar Worte herauszubringen: »Ich war so nah dran.«

»Ruhig. Trink noch etwas. Eines nach dem Anderen. Am Besten vergisst du die Suche für einen Moment und schonst deine Kräfte. Ich bin übrigens Irina.«

Doch ich kann nicht loslassen. »So viele Nächte. So viele Monate. Ich war so gut. Ich war so nah dran.« Ich kann nicht weitersprechen. Der Frust bildet einen riesigen Kloß in meinem Hals und die Erschöpfung tut ihr Übriges.

»Ja. Ich bin sicher, dass du gut warst, gut bist. Ich meine, wir waren verdammt gut, aber du warst vor uns hier – wenn auch nur ein paar Stunden. Vielleicht warst du die Erste. Wieso hätte sie dich sonst niederschlagen sollen?«

Sie? Ich horche auf. Nun gelingt es mir auch endlich, meine Augen offen zu halten.

»Da du sowieso nicht von der Sache lassen kannst, erzähle ich dir jetzt, was passierte, als wir hier ankamen.«

In diesem Moment kommt Rayko – falls ich den Namen richtig verstanden habe – zurück und kümmert sich um meine Wunden. Soweit ich das beurteilen kann, macht er seine Sache routiniert und professionell. Währenddessen beginnt Irina ihre Geschichte: »Schon unten am Parkplatz haben wir so unsere Befürchtungen gehabt, dass wir zu spät kommen. Dort standen bereits zwei Autos und zu dieser Zeit unter der Woche ist das an diesem verlassenen Stück Erde wohl eher unwahrscheinlich. Wir kamen an einen Tümpel und sahen dort einen Wanderrucksack liegen. Als wir uns die Sache etwas genauer ansahen fanden wir eine Blutlache mit einem Handy darin und Spuren – alles von dir, nehme ich an. Wir wussten also, dass wir jetzt verdammt vorsichtig sein mussten.

Oben an der Felsspalte sahen wir ein weiteres Backpack und ein nach unten führendes Seil. Doch bevor wir die Gelegenheit hatten, etwas zu tun, hörten wir unten Laub rascheln und dann einen dumpfen Schlag und einen Schmerzensschrei – das warst wohl wieder du. Wir wussten, dass wir nicht viel Zeit hatten und entschieden uns für die vorsichtige Variante. Wir wollten keine direkte Konfrontation. Also taten wir etwas, was dich sehr freuen wird: Wir steckten einen GPS-Tracker in die Seitentasche des Backpack – ein gutes Teil und richtig klein.« Die beiden grinsten breit, als Irina dies sagte. »Naja. Jedenfalls versteckten wir uns hastig und konnten beobachten, wie eine ziemlich durchtrainiert aussehende Frau aus der Spalte kletterte, etwas in den Rucksack steckte, ihr Seil einholte und dann hastig verschwand. Als sie weg war, sahen wir schließlich dich in der Spalte liegen. Zum Glück haben wir auch Klettersachen mitgebracht.

Ich schlage vor, dass wir dich zuallererst hier raus bringen. Ich sage es nicht gern, aber du hast dann erstmal eine gründliche ärztliche Behandlung nötig. In der Zwischenzeit finden Rayko und ich heraus, wo sich diese miese Ratte hin verkrochen hat. Und wenn es dir wieder besser geht, holen wir uns unsere Beute.

Also, was meinst du? Genug für Alle?«

»Genug für Alle.« Ich lächelte. Und ich war doch die Erste!

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